top of page

"Zeitenwenden"

Gedanken und Anregungen zum EFM-Jahresthema 2025
Drawing a Straight Line

2025 werden in 12 Blogs historische Ereignisse im Sinne des Konstruktivismus metaphorisch abwechselnd als Modelle für individuelle und kollektive Deutungs- und Handlungsmuster betrachtet und auf ihre Bedeutung für den Umgang mit Umbrüchen und „Zeitenwenden“ analysiert und ausgewertet.


 

Forumsblog 01-2025 Individueller Aspekt: Modell Spätantike

476 endete das Weströmische Reich –damit beginnen im gesamten Mittelmeerraum und den angrenzenden Kulturräumen regional unterschiedlich lange Übergangszeiten zwischen Antike und Mittelalter. Im Wesentlichen ist diese Zeit geprägt von Krieg und Völkerwanderung sowie Transformation des antiken Erbes und religiöser Neuorientierung, Verfall (Niedergang) und Entwicklung (Neubeginn).

Ähnlich wie im historischen Modell (Untergang Roms) sind auch biografische „Zeitenwenden“ (z.B. Beziehungswechsel) geprägt von internen und externen Einflüssen, Konventionen und Transformationen.

Im Folgenden werden verschiedene Möglichkeiten erläutert, am Beispiel von Beziehungen mit Systemwechseln umzugehen, indem sie als Möglichkeit zur Katharsis, Transformation und Resilienz – und damit für Einstellungs- und Perspektivwechsel – genutzt werden.
Aus individuell-biografischer Sicht lassen sich in dieser Weise aus dem Schicksal Roms folgende vier Thesen ableiten:


These 1 Wer eine neue Beziehung eingeht, sollte die alte abschließen


Ein Modell für Katharsis als die Fähigkeit, durch Inszenierungen von Krisen Lernerfahrungen zu machen, ist der hl. Augustin (354-430), der wie sein Vorbild Paulus und sein bekanntester Nachfolger Luther einen Paradigmenwechsel absolvierte, der seinen Blick auf die Ereignisse am Ende des Weströmischen Reiches prägte. Ähnlich wie Selbstreflexion ein zentraler Aspekt von Katharsis ist, rät auch Augustin den Christen in Rom bei der Eroberung der Stadt durch die Goten von überstürzten Aktionen ab: Statt irdische Schätze zu vergraben, sollten sie die geistlichen im himmlischen Schatzkasten niederlegen. Angesichts des „Greisenalters“ oder des Endes der Welt komme es auf vorbildliche Haltung an. Bereits in der Bibel sei vom Kommen und Vergehen der Weltreiche die Rede.
An seinen Äußerungen wird die Kombination von intrinsischen (Selbstwirksamkeit) und extrinsischen Motiven (Unabhängigkeit) deutlich:Statt sich dem dekadenten Materialismus ihrer Zeitgenossen anzuschließen, ist es angemessener für Christen, sich davon – und damit zugleich von Bedrohungsängsten – freizumachen. Dieses Modell lässt sich aktualisieren, indem für Trennungen und Neuorientierungen Rituale entwickelt werden, die alte Muster nicht konservieren und archivieren, sondern für Transformationsprozesse öffnen. 

 

These 2 Beziehungswechsel sind Kommunikationswechsel


Der von Augustin angestoßene Transformationsprozess als Fähigkeit durch metaphorische Konzepte Perspektivwechsel der Deutungs- und Handlungsmuster zu erreichen, statt einer ängstlich-materialistischen eine befreiend-spirituelle Perspektive einzunehmen, wird im Blick auf die Erstürmung Roms durch die Goten vom gallischen Bischof Sidonius indirekt thematisiert, wenn er 474 an seinen Amtsbruder Bischof Mamertus schreibt, man munkele, dass die Goten römischen Boden besetzt hätten, und die unglückliche Auvergne sei auch jetzt ihr Einfallstor gewesen, mit Christi Hilfe seien sie das einzige Hindernis für die Verwirklichung ihres Ehrgeizes, ihre Grenzen bis zur Rhone auszudehnen und so das ganze Land zwischen diesem Fluss, dem Atlantik und der Loire zu beherrschen. Sie beide und ihre Mitchristen leisteten Widerstand, obwohl sie die Gefahr und die Risiken kennten, weil sie nicht auf die armseligen Mauern, die vom Feuer beschädigt sind, oder auf verrottende Palisaden, sondern auf Gott allein und die Kraft des Gebetes vertrauten.
Auch hier werden intrinsische und extrinsische Motive miteinander verbunden, in diesem Fall die innere Kraft des Gebetes und der äußere Widerstand gegen Feinde. Hinzu kommt ein “Einfallstor” als Schlüssel und die kollegiale Unterstützung. Alles zusammen lässt sich auf moderne Transformationsprozesse in Beziehungen übertragen, indem metaphorische Konzepte im Zusammenhang mit Trennung und Neuorientierung re-,de- und neu konstruiert werden, damit auf diese Weise die typischen Konflikt-Einfallstore rechtzeitig mit dem Blick auf tragfähige Muster und Strategien gesichert und “verriegelt” werden können.


 

These 3 Beziehungswechsel brauchen Transparenz
 

Als ein Modell für Resilienz als die Fähigkeit durch die Erfahrung von Kohärenz und Zugehörigkeit Bewältigungsstrategien zu entwickeln, kann im Zusammenhang mit der Frage von Trennung und Neuorientierung Max Weber gelten, der die Zustände am Ende Roms als Soziologe vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im deutschen Kaiserreich interpretiert und dabei intrinsische (Dekadenz-Modell) und extrinsische (Völkerwanderungs-Modell) Motive kombiniert. Entsprechend seiner Grundthese: Das Römische Reich wurde nicht von außen her zerstört, etwa infolge zahlenmäßiger Überlegenheit seiner Gegner oder der Unfähigkeit seiner politischen Leitung, sondern vielmehr zog die Völkerwanderung nur das Fazit einer längst im Fluss befindlichen Entwicklung, weil die Kultur des römischen Altertums nicht erst durch den Zerfall des Reiches zum Versinken gebracht worden sei, sondern schon Anfang des dritten Jahrhunderts mit dem Versiegen der römischen Literatur endete.
Damit entwickelte Max Weber zugleich ein Resilienzmodell, indem sein Gesamtkonzept für Kohärenz sorgt und in die Gemeinschaft derer einfügt, die diese These teilen – auch wenn es Alternativ-/ Konkurrenzthesen gibt. Im Blick auf moderne Erfahrungen von Trennung und Neuorientierung lässt sich dieses Modell dadurch aktualisieren, dass an die Stelle widersprüchlicher Interpretationen des Trennungs-Geschehens ein in sich schlüssiges und biografisch angemessenes Gesamtmodell tritt, das von wichtigen Bezugspersonen mitgetragen wird. Das hilft, konkurrierende Interpretationen zur Kenntnis zu nehmen, ohne dass sie verwirren oder polarisieren.

 

These 4 Was ergibt sich aus dem Katharsis-Transformation-Resilienz-Schema und seiner Anwendung?
 

Angesichts eigener Erfahrungen von Trennung und Neuorientierung kann mir die Orientierung am historischen Modell Rom und an den Interpretationen von Augustin, Sidonius, Weber und anderen helfen, eigene Strategien der Selbstreflexion (Katharsis), der Neuinterpretation (Transformation) und der Integration (Resilienz) zu entwickeln, die zu einem Perspektivwechsel und einer neuen Haltung der alten und neuen Beziehung und dem Leben führen. Eine solche Strategie könnte so lauten: Trotz der Zerstörungen und Traumatisierungen, die eine Trennung mit sich bringt, finden wir eine Deutung des Geschehenen, die dazu beiträgt, nicht die Asche in den Blick zu nehmen, sondern die glimmende Glut gemeinsam oder einzeln für den weiteren Weg zu nutzen.

Datenschutz-Hinweis:

Es werden auf der Seite keine personenbezogenen Daten verarbeitet.

Die Texte auf dieser Seite unterliegen dem Urheberrecht.

Weitere Hinweise: 

https://efm2018.blog.muenster.org/impressum/

Impressum:
Ev. Forum Münster e.V.

Dr. Geert Franzenburg (Vorsitzender)

Postfach 460122, 48072 Münster

efm@gmx.info

bottom of page