FORUMSBLOG
.jpg)
"Zeitenwenden"
Gedanken und Anregungen zum EFM-Jahresthema 2025

Forumsblog 10-025 1945 Von einem Trauma ins nächste: Ostarbeiter-Resilienz
1945 wurden in Deutschland Tausende von „Ostarbeitern“ von den Alliierten aus ihrem menschenunwürdigen Schicksal „befreit“. Sie empfanden sich als „Sklaven“, wurden vom Regime mit „Maschinen“ verglichen (Sauckel-Erlass von 1941) und wurden materiell wie immateriell nur mit dem Allernotwendigsten versorgt. Im Nachkriegsdeutschland wurden sie entweder zu „heimatlosen Ausländern“ und in Arbeitslagern wie dem DP-Camp Gießen untergebracht oder wurden – auf der Grundlage der Westerweiterung der Sowjetunion in der Jalta Konferenz – vom NKWD in ihre sowjetische „Heimat“ deportiert. Dort kamen sie zumeist in Gulags oder nach Sibirien, denn sie galten in der Sowjetunion als „Verräter“. Für die Westmächte waren sie „Kollaborateure“, denen die Emigration verweigert wurde.
Die folgenden Thesen gehen anhand des Beispiels von Nikolai Karpov, der – ähnlich wie viele andere Polen, Russen und Ukrainer – als Kind mit seiner Großmutter 1942 nach Münster zur Zwangsarbeit verschleppt wurde und seine Erinnerungen später festhielt, der Frage nach, welche Resilienzstrategien den Menschen über Jahrzehnte halfen, ihr doppelt schweres Los zu bewältigen. Dabei wird unter „Resilienz“ die Fähigkeit verstanden, anhand der Erfahrung von Geborgenheit in einer Gemeinschaft, der Erfahrung von Sinn und durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit Ausnahmesituationen einzuordnen, zu kommunizieren und zu transformieren. Grundlage der Studien sind entsprechende Forschungen von Adler, Frankl und Cyrulnik, die auf eigenen KZ-Erfahrungen fußen und aufzeigen, wie sich Resilienzstrategien narrativ äußern. Ihre Forschungen bestätigen Ergebnisse der Stressforschung (Lazarus u.a.), wonach kognitive, affektive und pragmatische Strategien und Ressourcen bei der Bewältigung belastender Situationen zusammenwirken. Die Untersuchungen von Lakoff, Johnson und anderen zeigen zudem auf, wie die entsprechende Verarbeitung von Emotionen durch metaphorische Konzepte geschieht, die nicht nur zu den traumatischen Umständen die nötige Distanz schaffen, sondern auch dazu beitragen, lösungsorientierte Strategien konstruktiv zu verankern.
In dem in den Thesen zitierten Buch von Gisela Schwarze, „Der kleine Ostarbeiter“, schildert Nikolai Karpov seine traumatischen und resilienten Erlebnisse, an die sich auch andere „Ostarbeiter:innen“ erinnerten. 50 Jahre später, in der Endphase der Sowjetunion, ermöglichten Perestroika und Glasnost, dass die damaligen „Kindersklaven“ nach Jahrzehnten der Tabuisierung im Rahmen der Entschädigungsdebatten ihr Schweigen gegenüber Forschern von „Memorial“ und Briefpartnerinnen wie Gisela Schwarze brachen. Ihre Antworten lösten eine Fülle an Forschungen, Ausstellungen, Lesungen in ganz Deutschland aus.
Die folgenden Thesen beziehen sich exemplarisch auf ihre Erlebnisse in Münster.
A. Adler,. The Meaning of Life. Boston1931
B. Cyrulnik, Resilience, New York 2009
V. Frankl, Man's Search for Meaning, New York 1964:
N. Karpow, Der kleine Ostarbeiter. Münster 2013.
G. Lakoff, G.. & M. Johnson. Metaphors we live by. Chicago 1980
R.S. Lazarus, Stress and Emotion. A new Synthesis. London 1999
Memorial Moskau/Heinrich Böll Stiftung (Hg.), Für immer gezeichnet, Berlin 2019
G. Schwarze (Hrsg.) Die Sprache der Opfer. Essen 2005.
https://www.museum-zwangsarbeit.de/geschichte/fritz-sauckel
These 1 Traumatisierung beginnt schon früh – Resilienz auch
Nikolai Karpov erinnert sich:
Eines Morgens, als ich vor der Gaststätte fegte, standen in dem kleinen Garten und auf den Wegen, die zu ihm führten, lauter russische Kinder. Sie waren nicht der Jahreszeit entsprechend sommerlich gekleidet, sondern trugen Wintermäntel und viel zu große gesteppte Wattejacken. Deutsche Militärangehörige, die sie bewachten, versuchten durch drohende Zurufe alle zu einem Haufen zusammenzutreiben. Ich ging auf die Kinder zu und fragte sie, woher sie kämen, hoffte Leute aus meiner Gegend zu entdecken, fand aber keinen einzigen. Sie hielten sich dort schon eine halbe Stunde auf. Ich brachte ihnen Wasser, doch für alle reichte es nicht. Nur einige Kinder konnten einen Schluck aus dem Krug trinken. Wer sie und warum sie elternlos waren und wohin die Unglücklichen getrieben wurden, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. So plötzlich sie gekommen waren, so plötzlich waren sie auch wieder verschwunden, von den Wachsoldaten angetrieben.
/.../
Großmutter und ich erhielten die Pritschen direkt an der Tür. Wir legten unsere Sachen ab und saßen lange da, ohne uns zu rühren, dann streckten wir uns aus und lagen dort bis zum Abend.
/...
Am Abend bekamen Großmutter und ich ein Schälchen, das ein wenig Marmelade enthielt. Wir lutschten und schluckten sie mit heißem Wasser hinunter. Tags darauf wurde Großmutter dorthin (d. h. zum Trümmer-Aufräumen in die abgebrannte Marmeladenfabrik) geschickt, aber sie brachte nur ein halbes Glas mit, das jemand mit einer Schaufel geteilt hatte,
/.../
In den Paketen, die wir erst in der Baracke öffneten, waren Äpfel, Süßigkeiten, Kekse und einige schmackhafte belegte Brote. Großmutter sagte mir, ich sollte für die Gesundheit und das Wohlergehen der Familie Peters beten, und das tat ich auch vor dem Schlafengehen.
/.../
Ich ging in der unheimlichen Stille bis zur Baracke und sah, dass Großmutter am Eingang stand und mich erwartete. Ich weinte, nachdem ich meinen Kopf in ihrer gesteppten Wattejacke vergraben hatte. Sie strich über mein Haar, und über ihre eingefallenen Wangen rollten Tränen.
/.../
Ich dachte nicht an die schwere Arbeit, die mir bevorstand, nicht daran, dass ich ständig essen wollte und dass Großmutter alles von Tag zu Tag schwerer aushielt. Spürte ich vielleicht, dass das anbrechende Jahr 1945 uns die Freiheit bringen würde? Das Land, in dem Großmutter und ich bereits das zweite Jahr lebten, erschien mir zwielichtig.
Eine solche Erinnerung lässt erkennen, dass die erinnernde Person in der Erinnerung ganz in ihre Kindheit eintaucht und dabei z. B. ihre Beziehung zur Großmutter als Resilienzquelle offenbart, ähnlich wie andere in ihren Erinnerungen auf die mit ihnen deportierte Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Freund:innen) fokussiert sind.
Das lässt erkennen, dass die Gemeinschaft mit einem geliebten Menschen und die Orientierung an seinem Vorbild im selbständigen Handeln wichtige Resilienzquellen sind und dadurch nicht nur die damaligen Kindersklaven überlebenswichtige Strategien entwickeln konnten.
These 2 Traumata bestehen aus Bildern – Resilienz auch
Aus Karpovs Erinnerungen:
Das Land, in dem Großmutter und ich bereits das zweite Jahr lebten, erschien mir zwielichtig. Durch das Halbdunkel des Regens, die nassen Stämme der Espen, über ihren knorrigen, aus dem feuchten Boden herausragenden Wurzeln leuchtete plötzlich das frische Grün der Wiesen, und die Abwässer des Kanals in der Nähe des Lagers schimmerten plötzlich blau und rauchfarben. Die Brücken, die über sie hinweg führten, wurden gleichsam durchsichtig, und alles erstrahlte in blauem Licht. Es kam einem seltsam vor, wie dieses schöne, durch den Fleiß der Menschen bereicherte Land nach Raubtiergesetzen lebte. Unwillkürlich gewann man den Eindruck, sie existierten überhaupt nicht, sondern man hatte von ihnen nur geträumt in einer von drückender Schwüle erfüllten Nacht.
Das Beispiel von Nikolai Karpov zeigt: Die ehemaligen „Ostarbeiter:innen“ erinnern sich an die Situation der Zwangsarbeit als eine Erfahrung emotionaler und körperlicher Belastungen, die durch Angst, Unsicherheit, Überwachung, Verlust und Isolation, Hunger und täglichen Kampf ums Überleben, durch die tiefe Verletzlichkeit ihrer Existenz gekennzeichnet war. Sie erinnern sich zugleich aber auch an Augenblicke der Freude, der Gemeinschaft, Fürsorge, Sättigung, Wärme. Ihre Erinnerungen sind daher ein ständiges Balancieren zwischen der rauen Wirklichkeit und der Verklärung in Farben und Empfindungen, die für fast surreale Momente (Traum) sorgen. Resilienzstrategien des Perspektivwechsels, der Umdeutung und Umgestaltung sind von kreativer Ambivalenz und Balance geprägt, die vielleicht nur Kindern leicht zugänglich sind:
Als ich auf der Suche nach etwas Essbarem in den Trümmern wühlte, fand ich eines Tages ein scharfes Rasiermesser, benutzte es als Messer und schnitzte damit aus Holzstückchen Flugzeuge. Nun suchte ich nicht nur nach Essbarem, sondern auch nach Nägeln, Farbe, Holzscheiten und Draht. Die Flugzeuge sahen gut aus. Sie hatten Propeller, die sich bei Wind drehten. Wir bastelten alles, was wir irgendwann einmal gesehen hatten.
/.../
In unserem Lager, das in einer Senke errichtet worden war, standen viele dieser Pfützen. Sie erinnerten uns eines Tages daran, dass wir alle Kinder waren. Wir wollten Schlittschuh laufen. Zuerst liefen wir in unseren Holzpantinen, doch dann bastelten wir uns Schlittschuhe. Das war ein echtes Kunststück.
Diese Resilienzform, Kind zu bleiben oder wieder zu werden, gilt nicht nur für die damaligen Kindersklaven, sondern auch für die Erinnernden 50, 60 Jahre später und für alle, die nicht verlernt haben, sich mit Hilfe elementarer Hilfsmittel und Fundstücke von Puppen und Blumenkränzen in eine Fantasiewelt zu flüchten, auch wenn diese aus Müll besteht.
These 3 Trauma isoliert – Resilienz wächst durch Solidarität
Nikolai Karpov erinnert sich:
Wir Kinder durchstöberten aus lauter Langeweile alle Keller und Böden, fanden dort manchmal etwas, was wir gebrauchen konnten, und nahmen es mit. In einem Keller lagen zuhauf Ansichtskarten von Münster. Vier von ihnen besitze ich noch. Sie erinnern mich an jenes schwer vorstellbare Leben. In einem anderen Keller lagen in den Regalen warme, aus Kaninchenfell hergestellte Kopfschützer für Flieger, die mit hellblauer Seide umnäht waren. Wir staffierten uns mit ihnen aus und begannen gleich ein Kriegsspiel.
Für die Zwangsarbeitenden aus Russland und der Ukraine war die größte Herausforderung, sich nicht von der Zwangsvergemeinschaftung durch Lagerleben, Nummerierung und OST-Abzeichen entmenschlichen zu lassen, sondern ihre eigenen Gemeinschaften zu leben.
Davon zeugen Briefe an die Eltern und Verwandten, aber auch Lieder und Tänze.
Ob es die begleitende Großmutter war oder andere brieflich erreichbare Familienmitglieder, Leidensgenossen im Lager oder wohlmeinende Deutsche außerhalb: Immer kam es darauf an, nicht nur – wie vom NS Regime beabsichtigt – eine Nummer zu sein, sondern Teil einer Gemeinschaft. Hintergrund ist die Forderung in den deutschen Lagerregeln, in den es hieß, die "fremdvölkischen Arbeitskräfte" seien
aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Mahlzeiten haben diese grundsätzlich an von uns getrennten Tischen einzunehmen. Durch Wahrung eines großen Abstandes den Fremdvölkischen gegenüber muss eine unumschränkte Autorität des deutschen Menschen geschaffen und aufrecht erhalten werden.
Dem gegenüber finden sich in den Erinnerungen passende metaphorische Konzepte, die nicht nur das Isoliert- und Eingesperrt sein thematisieren, sondern auch Befreiungsmomente. Auch wenn das Verlassen von Unterkunft und Aufenthaltsort sowie der gesellige Verkehr mit der deutschen Bevölkerung streng verboten war, gab es kreative Wege, solche Verbote mit Hilfe deutscher Unterstützung zu umgehen, wie aus Verhörprotokollen hervorgeht. Auch die metaphorischen Konzepte der Erinnerungen betonen beides, Stacheldrahtzäune, Tore, Mauern, aber auch kleine Freiheitsmomente in den Gemeinschaftsräumen.
Nikolai Karpov erinnert sich:
Wir arbeiteten als Hilfsarbeiter mit den Holländern. Nach der Arbeit bekamen wir im Speisesaal der I. Etage Lebensmittelmarkenverpflegung als Grundnahrung. Im Hof stand eine Feldküche. Dort konnten wir immer heißen Kaffee be- kommen. Auf dem Grundstück und in der Stadt konnten wir uns frei be- wegen. Mit den Holländern waren wir in guten freundschaftlichen Beziehungen.
Sonntags hatten wir frei.
Eine der häufigsten Resilienzstrategien unter Ostarbeiter:innen waren somit die kreative Nutzung kleinster Freiräume und gegenseitige Hilfe und Solidarität auch zwischen unterschiedlichen Ethnien. Man teilte Ressourcen und leistete emotionale Unterstützung.
These 4 Folgerungen für aktuelles Resilienztraining
Gemeinschaft hilft
Gemäß dem „sense of belonging“ benötigen Menschen, um schwierige isolierende Situationen und Herausforderungen zu meistern die Erfahrung, Teil einer sie tragenden Gemeinschaft zu sein. Das entspricht der gemeinsamen Ansicht von Adler, Cyrulis und Frankl, dass eine unterstützende Gemeinschaft Empathie, Verständnis und Ermutigung bietet und dabei hilft, einerseits durch emotionale Bindung und Erfahrungsaustausch sich weniger isoliert und mehr verbunden zu fühlen, und andererseits sich Mentoren oder Vorbilder zu suchen, die sie inspirieren und begleiten und ihnen helfen, Herausforderungen zu meistern und sich eine positive Zukunft vorzustellen.
Mein Leben hat trotzdem einen Sinn
Adler, Cyrulis und Frankl sind sich außerdem darin einig, dass im Sinn des Lebens der Schlüssel zur ganzen Persönlichkeit liegt, indem durch (Selbst-) Erkenntnis eine Verbesserung der persönlichen Lage und eine kooperativere und mutigere Lebenseinstellung in der Gemeinschaft möglich wird. Für sie gehören unter allen psychischen Ausdrucksformen die Erinnerungen des Einzelnen zu den bedeutendsten. Seine Erinnerungen sind die Erinnerungen, die er/ sie mit sich herumträgt, an die eigenen Grenzen und an die Bedeutung der Umstände. Es gibt keine „zufälligen Erinnerungen“: Aus der unüberschaubaren Zahl von Eindrücken, die auf ein Individuum treffen, wählt es nur diejenigen aus, von denen es das Gefühl hat, dass sie, wie dunkel auch immer, einen Bezug zu seiner Situation haben. Seine Erinnerungen sind also seine „Geschichte meines Lebens“; eine Geschichte, die er/ sie sich selbst wiederholt, um zu warnen oder zu trösten, um sich auf sein/ ihr Ziel zu konzentrieren, um sich mit Hilfe vergangener Erfahrungen darauf vorzubereiten, der Zukunft nicht nur mit einem bereits erprobten Handlungsstil zu begegnen.
Ich bin nicht nur Opfer: Selbstwirksamkeit als Resilienzschlüssel
Adler, Cyrulis und Frankl stimmen auch darin überein, dass Menschen, die sich als Teil einer tragenden Gemeinschaft erleben und in allen Widerfahrnissen einen roten Faden erkennen und benennen können, dadurch ermutigt werden, sich nicht als Opfer zu begreifen, sondern die Regie über ihr Leben zu übernehmen. Das zeigt sich z. B. darin, dass sie ihr Leben unter ein Motto stellen, von dem sie wissen, dass sie ihm folgen können und das sie im Notfall unterstützt oder auffangen wird.
Datenschutz-Hinweis:
Es werden auf der Seite keine personenbezogenen Daten verarbeitet.
Die Texte auf dieser Seite unterliegen dem Urheberrecht.
Weitere Hinweise:
Impressum:
Ev. Forum Münster e.V.
Dr. Geert Franzenburg (Vorsitzender)
Postfach 460122, 48072 Münster