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Wagnis Demokratie

Gedanken und Anregungen zum EFM-Jahresthema 2024
Drawing a Straight Line

Forumsblog -2024-04

Philosophie in Ost und West 

Fragt man nach prägenden Philosophen in beiden Teilen Deutschlands, stößt man neben der "Frankfurter Schule" vor allem auf die Namen Marx, Nietzsche und Kant als einflussreiche Persönlichkeiten, auch wenn selbstverständlich der gesamte Kanon im Blick war.
Dass im Folgenden das Thema Utopie und diese drei Denker näher betrachtet werden, hängt mit der engen Verbindung von Wissenschaft und Ideologie der Weltbilder in Ost und West zusammen. Das soll im Folgenden thesenartig näher erläutert werden.


These 1 Marx als Grundlage im Osten

Die DDR-Führung setzte auf den sogenannten wissenschaftlichen Marxismus und erklärte, ihre Politik auf philosophisch begründeten Prämissen aufbauen zu wollen. Dazu dienten Institutionen wie die staatstreue „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“, um Vorlagen für die offizielle Ideologie der DDR zu liefern. Zur theoretischen Untermauerung verfasste der KPD-Kulturverantwortliche Anton Ackermann 1946 den Aufsatz „Gibt es einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus?“ wo u.a. auf Marx und Engels und die Geschichte der Klassenkämpfe hingewiesen wird; allerdings habe nur die Russische Revolution eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsstruktur erreicht. 
Als 1948 Stalins „Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU“ in den Schulen verpflichtend gemacht wurde, musste sich Ackermann von seinen bisherigen Auffassungen distanzieren. Auf der 1. Parteikonferenz am 28. Januar 1949 wurde der Marxismus-Leninismus in der Sowjetzone Deutschlands eingeführt. Wer philosophisch von der offiziellen Linie abwich, musste sich Nischen suchen.
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/537084/die-etablierung-des-marxismus-leninismus-in-der-sbz-ddr-1945-1955/

Während in den Arbeiterparteien in Westdeutschlands angesichts ihrer Vorgeschichte und des „Wirtschaftswunders“ keine sinnvolle Diskussion des Marxismus in Gang kam, existierten im akademischen Bereich eine Vielzahl von mehr oder weniger eindeutig an marxschen Thesen und Denkfiguren orientierten marxistischen Positionen mit historisch-kritischem Aspekt als gemeinsamem Merkmal. 
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/528036/marxistische-positionen-und-linke-studentenopposition-in-der-bundesrepublik-i-der-marxismus-in-deutschland/


These 2 Marx als Herausforderung im Westen

Je mehr Marx im Osten Standard wurde, umso mehr wurde er im Westen tabuisiert bzw. (wie bei Ritter, Marquart u.a.) kritisiert, auch wenn die „Frankfurter Schule“ (Adorno, Horkheimer) seine Ideen aufgriff. Wolfgang Abendroth galt als der einzige unter den bundesdeutschen Hochschullehrern, der sich zum Marxismus – als wissenschaftlicher Methode  – offen bekannte. Die „Theorie eines kritisch erneuerten Marxismus“ begriff er als „Theorie des sozialistischen und demokratischen  Humanismus, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch Karl Marx und Friedrich Engels in  der Gesellschaft des liberalen Kapitalismus entwickelt wurde“. Sie biete nach wie vor die „Grundlagen /.../, um auch die Gesellschaft des Spätkapitalismus, ihre Auseinandersetzungen mit  den mit ihr koexistierenden /.../ sozialistischen Systemen, den kolonial-revolutionären Regimen und ihre politischen Konflikte zu verstehen und zu ihrer Lösung anzuleiten“. In der Schrift „Das Grundgesetz“ (1966) führte er diesen zentralen Gedanken weiter aus: „Das Prinzip des demokratischen  und sozialen Rechtsstaates geht /.../ davon aus, dass der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 und der Selbstverwaltungsgedanke sich aus der politischen Ordnung in die Kultur- und Wirtschaftsgesellschaft übertragen kann, und dass der Gesetzgeber, die Exekutive und die richterliche Gewalt mindestens die Möglichkeit, wenn  nicht den Auftrag erhalten, diese Ausdehnung demokratischer Grundsätze aus dem Staatsrecht in die Beziehungen der Bewohner des Staatsgebietes (bzw. dem Anwendungsbereich des Grundgesetzes) untereinander durchzusetzen.“  
Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, Göttingen 2011.

http://wolfgang-abendroth-stiftungsgesellschaft-wasg.de/w-abendroth/
https://www.marx-engels-stiftung.de/Texte/Jantzen_Marxismus-als-Denkmethode.pdf

https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/november/exempel-deutsche-wohnen-der-kampf-um-die-materiale-demokratie

https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophie-in-der-ddr-wenig-raum-fuer-freigeister-100.html


These 3 Umgang mit Marx heute 

Diese kurzes Skizze aus Ost- und Westdeutschland ermutigt dazu, Möglichkeiten zu erkennen, sich einer Welt zu widersetzen, in der die Schere zwischen Arm und Reich, Ausbeutern und Ausgebeuteten, zwischen extremem Reichtum und extremer Armut immer größer wird. Wo die Orientierung an Ökonomie an die Stelle von Menschenrechten tritt, gilt es, solchen neoliberalen Tendenzen ein moralisches Weltbild entgegenzusetzen und die korrumpierende Markt- Selbstregulation durch solidarische Formen der Kooperation zu ersetzen. Somit bleitben Marx und Marxismus weiterhi  aktuell und von einer generativen Wirksamkeit, wie sich an den Themen Klimawandel und Klimagerechtigkeit aufzigen lässt.


These 4 Nietzsche als Feindbild – Kant als Vorbild

Auch  wenn Nietzsche in West und Ostdeutschland wie auch in West- und Osteuropa als Nazi-Philosoph tabuisiert wurde – in den Staaten des Ostblocks wurde Nietzsche fast überhaupt nicht rezipiert. Georg Lukács reihte ihn 1954 in die „irrationalistische“ bürgerliche Philosophie Deutschlands ein, die durch Zerstörung der Vernunft dem Faschismus und Nationalsozialismus den Weg bereitet habe. Auf dieser Grundlage polemisierte vor allem Wolfgang Harich gegen Nietzsche und förderte sein Verbot in der DDR, während im Westen durch den Existentialismus das Interesse an Nietzsche wuchs und z.B. Walter Kaufmann Nietzsche mit Sokrates und Hegel in Verbindung setzte.
http://www.episteme.de/download/Heinrich-Nietzsche-Rezeption.pdf 

Vorrangig im Westen befassten sich Philosophen mit den Aussagen von Immauel Kant, dabei mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Deutungen. Ausgehend von der bisherigen Kantforschung las man seine Schriften im Hinblick auf seine Vorlesungen und beachtete sein kritisches Denken und den fortlaufenden Prozess seines Philosophierens. Seine Werke als Fixierungen des bereits Durchdachten. 
Gerhard Lehmann, Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin, New York 1980.

Außerdem befasste man sich eingehender mit Kants Erfahrungsbegriff, vor allem im Blick auf die Erfahrung des wissenschaftlichen Kunstverstehens und der Naturerfahrung. Kunsterfahrung ist somit sekundäre Konstitution über die Naturerfahrung (Naturwissenschaft) und über die künstlerische Produktion von Gestalten aus dem sinnlich gegebenen Mannigfaltigen.
Gerd Wolandt, Überlegungen zu Kants Erfahrungsbegriff, Aachen 1978.

Zudem orientiere man sich im Westen an angesächsischen Kant-Interpretationen, wie die von Rawls, der in der „Theorie der Gerechtigkeit“ seine beiden Grundsätze der Gerechtigkeit als eine Version der kantischen Selbstzweckformel ansah und die kantische Konzeption moralischer Personen als freie und gleiche Vernunftwesen seiner Utilitarismuskritik zugrundelegte. Die spezifischen Beschränkungen des Urzustands erläuterte Rawls in der „kantischen Interpretation“ von Gerechtigkeit als Fairness, als verfahrensmäßige Deutung von Kants Begriff der Autonomie und des kategorischen Imperativs.
Rawls, John: A Theory of Justice; Cambridge, Mass., Harvard University Press 1971. 

Im Osten war dagegen Lenins Polemik für lange Zeit ausschlaggebend, Kants Idealismus sei nicht kompatibel mit Marx' Materialismus. Entsprechend wurde Kant als Vertreter der Bourgeoisie angesehen, ohne Kenntnis von Klassenkämpfen, und deshalb von der SED tabuisiert, z. B. wenn es um Jubiläumsfeiern ging. Auch als Ernst Bloch 1954 zu einer Kant-Gedenkveranstaltung (150. Todestag) einlud, wurde diese von der SED-Führung kurzfristig abgesagt.
https://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2024/03/Jahrestagung-2024.pdf


These 5 Kant und Nietzsche heute

Angesichts der aktuellen Emotionalität in öffentlichen Diskussionen, der Ressentiments und Polarisierungen in vielen Debatten wird die Aktualität von Nietzsches Gesellschaftskritik deutlich, ebenso wie die wachsende Wut und Verzweiflung über Unterdrückung und Ungerechtigkeiten in der Welt. Einerseits zum Verständnis der Konflikte zwischen den Religionen, der revolutionären Bewegungen und antiwestlichen Bewegungen zur Beendigung des Kolonialismus, andererseits als Wegbereiter von Faschismus, Imperialismus und Raubtierkapitalismus bleibt er aktuell für linke Philosophen, Poststrukturalisten, gleichwohl auch für Rechte und Identitäre. 
https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/ein-meer-aus-widerspruechen-2194/. 

Auch Kant bleitbt aktuell aufgrund seines noch weitgehend unausgeschöpften diagnostischen und kritischen Potenzials und praktischer Orientierungskraft im Blick auf moralische Autonomie, Menschenwürde, föderale Weltfriedensordnung und Aufklärung als Verknüpfung von Vernunftkritik mit Vernunftvertrauen, von anthropologischem Realismus und moralischem Idealismus und von individuellem Glücksstreben und Moral. Das zeigt sich an seinem Einfluss auf die Kritische Theorie, vor allem auf Adorno und Horkheimer, und auf ihre Dialektik der Aufklärung. Adornos Vorlesungen über die Philosophische Terminologie befassen sich mit Kants Erkenntnistheorie und Wissenschaftsbegriff und mit dem bürgerlichen und damit tendenziell repressiven Charakter des kantischen Freiheitsbegriffs („Strafbedürfnis“). Daran zeigt sich, dass bürgerliche Moral und bürgerliche Produktionsweise vom Standpunkt der Kritischen Theorie nicht voneinander zu trennen sind
https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/ew/forschung/feuerbach/das_verh__ltnis_der_kritischen_theorie_zur_philosophie_kants.pdf

https://www.uni-frankfurt.de/116179438/Vernunft_und_Realismus__Aktualit%C3%A4t_Kants.pdf


These 6. Umgang mit Utopien

Auch wenn Fernsehen, Flüge ins All, Fortbewegung schneller als der Schall und andere – ehemals sehr utopische – Träume mittlerweile erfüllt werden, sah Adorno in ihrer Verwirklichung einen eigentümlichen Charakter der Ernüchterung und der Langeweile, als wäre dabei das Beste vergessen worden und eine seltsame Schrumpfung des utopischen Bewusstseins eingetreten. Während einzelne technische Innovationen den Eindruck eingelöster Utopien erwecken könnten, sei jede Aussicht auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Ganzen in weite Ferne gerückt. Denn die Fähigkeit, sich überhaupt vorzustellen, dass dieses Ganze auch ganz anders sein könnte, sei den Menschen völlig abhandengekommen.
Dass viele Utopien letztlich nicht erfüllt worden, sondern durch die Erfüllung banalisiert worden seien, meinte auch Ernst Bloch. Mit Skepsis, ob sie sich überhaupt verwirklichen ließen, hätten Utopien im Übrigen schon lange zu kämpfen gehabt. Der Slogan „Das ist nur eine Utopie!“, mit dem alternative Gesellschaftsentwürfe „als Wolkenkuckucksheim, als „Wishful Thinking“, „Träumerei“ abgetan würden, sei sehr alt, so Bloch.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/adorno-ernst-bloch-utopie-archiv-swr-100.html

In der DDR waren utopische Modelle Teil der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, die von der SED vorgegeben und kontrolliert wurde. So war z.B. im Anschluss an Thomas Morus und inspiriert durch Gagarins Flug ins All vom „Zukunftsroman“ oder „utopisch-technischen Roman“. die Rede, was Ideal und Skepsis miteinander verband und zugleich einem wirklich utopischen Vorausdenken und Spekulationen enge Grenzen setzte . 
https://demokratischer-salon.de/beitrag/utopische-literatur-made-in-gdr/

https://www.fr.de/kultur/literatur/alte-debatte-aufgemischt-nietzsche-13532616.html


These 7: Moderne Utopien

Auch wenn mit dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus die Versprechungen der großen Utopien der Moderne nicht eingelöst und schwach geworden schienen, so dass die Gesellschaft am Ende der Geschichte in ein post-utopisches Zeitalter im demokratischen Kapitalismus aufging (Habermas 1990; Fest 1991), dessen Krisenanfälligkeit immer deutlicher wurde. Spätestens seit den sozial-ökologischen Schäden der industriell-kapitalistischen  Wohlstandsproduktion und der imperialen Lebensweise entstanden seit den 1970er Jahren in diesem Umfeld neue Utopien im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte sowohl in der Zivilgesellschaft als auch im Rahmen der internationalen Politik und Wissenschaft. Debattiert wurde und wird darüber, wie eine ökologischere und gerechtere Welt aussehen und gestaltet werden könnte. Die Entstehung sozial-ökologischer Utopien fußte somit auf der Erkenntnis konkreter sozio-historischer Strukturprobleme moderner Gesellschaften und ist daher sozialer und ökologischer Natur. Die sich zwischen einem ökologischen Kollaps und einer transhumanistischen Perfektionierung der Naturbeherrschung aufspannenden Möglichkeitsfelder erscheinen enorm.  Postwachstum und Gemeinwohlökonomie, Suffizienz und Klimagerechtigkeit sind die wichtigsten Kernbegriffe. 
https://www.oekom-crowd.de/wp-content/uploads/2019/11/WendtGo%CC%88rgen_sozial-o%CC%88kologische-Utopien_Leseprobe.pdf

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